Hans H. Diebner:

Bilder sind komplexe Systeme und deren Interpretationen noch viel komplexer - Über die Verwandtschaft von Hermeneutik und Systemtheorie. (pdf)

In: Inge Hinterwaldner und Markus Buschhaus: The Picture's Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. Fink-Verlag, München, 2006, pp. 282-299.

Abstract:

Die Bildinterpretation in der medizinischen Diagnostik nimmt eine interessante Sonderstellung ein, nicht nur weil sie eine ausgeprägte existentielle Bedeutung hat - der Behandlungserfolg hängt von ihr ab -, sondern auch weil der Entscheidungsprozess in der Diagnostik üblicherweise mit einem Inferenzprinzip beschrieben wird, das subjektive Wahrscheinlichkeiten - Glaubwürdigkeitsgrade - für die Validität von Hypothesen benutzt, die die Medizin verstärkt zu einer hermeneutischen Disziplin machen. Das so genannte Bayessche Rückschlussprinzip kommt auf den ersten Blick sogar einer Formalisierung des hermeneutischen Zirkels sehr nahe, weil es im iterativen Einsatz eine voranschreitende Aktualisierung von a priori Erkenntnis zu a posteriori Erkenntnis beschreibt. Schon der Begriff der Anamnese, also des Ausbildens von solider Vorkenntnis durch Einbezug eines möglichst großen Kontextes des Patienten - ein Begriff der sich an Platons anamnesia, also der angeborenen Fähigkeit der Seele sich aus einer Aporie heraus zu winden, anlehnt - erinnert an die Hermeneutizität dieser Disziplin.

Die Möglichkeit der neuen Medien die Bilder technisch zu analysieren und damit zu interpretieren, sowie der Einsatz automatisierten Wissensmanagements mit Hilfe von Datenbanken, führt zu einer - vermeintlichen - Objektivierung, die den Namen "evidenzbasierte Medizin" bekommen hat. Neben den unbestreitbaren Errungenschaften dieser Entwicklung liegt hierbei eine Gefahr in der zunehmenden Veräußerung des Entscheidungsprozesses und damit Verantwortlichkeit, die eine Zuspitzung der Verdinglichungstendenz der Technik, wie von Heidegger beschrieben, darstellt. Interessanterweise arbeiten an dieser "Objektivierung" zahlreiche Physiker und Informatiker, denen möglicherweise bisher eine ausreichende Reflexion ihres Objektivitätsglaubens fehlt.

Es wird der Versuch unternommen, zu zeigen, dass auch in der Produktion von Bildern in der Physik ein hermeneutisches Vorgehen zu beobachten ist und die Bildgestaltung einem Prozess unterliegt, der in der Physik selbst nicht diskutiert wird. Bei der Erforschung komplexer, oft nichtlinearer, chaotischer Systeme ist wegen der fehlenden mathematischen Analytizität die Naturwissenschaft auf numerische Behandlung einschließlich Visualisierung angewiesen. Selbst die Mathematik beginnt sich zaghaft gegenüber "video proofs" zu öffnen und sie zumindest als Hypothesengeneratoren gelten zu lassen. In der nichtlinearen Dynamik und Komplexitätsforschung widmet man sich seit einigen Jahrzehnten Problemen der Nichtberechenbarkeit und Selbstreferentialität. Stark avanciert durch Niklas Luhmann, rückte die Systemtheorie damit in die Nähe einer in der Fundamentalontologie und Hermeneutik wahrgenommenen und sogar ernsthaft diskutierten Grundlage. Umgekehrt erkennen zunehmend mehr Naturwissenschaftler die enorme Bedeutung der Heideggerschen Fundamentalontologie und Hermeneutik. Die Überlegungen führen zur Hypothese, dass Bilder in der Wissenschaft nicht nur - wie sehr häufig als zentraler Aspekt diskutiert - zur Kognitionsentlastung produziert werden, sondern dass durch sie eine Veräußerung der Entscheidung verhindert wird zu Lasten einer Intersubjektivität, aber zu Gunsten eines schöpferischen Moments.

Verwandte Publikationen:

Hans H. Diebner: Über die Rolle von Kunst in den Sozial- und Organisationswissenschaften (pdf). In: Timo Meynhardt und Ewald J. Brunner (Eds.): Selbstorganisation managen - Beiträge zur Synergetik der Organisation. Waxmann, Münster, 2005, pp. 117-134.

Hans H. Diebner: Von guten Algorithmen und schlechten Menschen (pdf). In: Barbara Könches und Peter Weibel (Hrsg.): UnSICHTBARes - kunst_wissenschaft. Benteli-Verlag, Bern, 2005, pp. 384-405.

Hans H. Diebner: Operational Hermeneutics and Communication (pdf). In: Hans H. Diebner and Lehan Ramsay (Eds.): Hierarchies of Communication. Verlag ZKM, Karlsruhe, 2003. pp. 30 - 57.