Hans H. Diebner's Research
Information Ethics and Critical Media Theory
To my regret, at the moment only a German introduction into this issue is available. English information will follow soon.Seit einiger Zeit setze ich mich mit einer kritischen Medientheorie auseinander. Genau genommen beschäftigt mich die Kybernetisierung der Gesellschaft. Ich versuche, den Begriff der Verdinglichung erneute stark zu machen, der hier angebracht scheint. Verdinglichung ist eine Seinsverfehlung. Axel Honneth hat dazu kürzlich ein kleines Büchlein verfasst (Honneth: Verdinglichung. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2005). Hinter einigen der algorithmischen Methoden der BenutzerInnen-Modellierung (user modelling) sehe ich eine Verdinglichung. Man könnte salopp und vielleicht etwas krass formulieren, dass die Antizipation der Entscheidungen der BenutzerInnen Letztere zu einer Abnickmaschine degradieren.
Virales Marketing ist nur ein Anwendungsbeispiel, bei dem die automatisierten Antizipationen von Bedürfnissen und Handlungen, in Kombination mit der von Richard Dawkins initiieren Memetik, eine maßgebliche Rolle spielt. Hier wird versucht, die Vorlieben der InternetbenutzerInnen zu detektieren und außerdem zu modellieren, wie sich die beliebten Themen ausbreiten, um schließlich eine optimale Strategie der Manipulation zu ermitteln. Zunächst findet ein Monitoring der Themenflusses insbesondere in der leicht zugänglichen Blogosphäre statt. Hierbei werden die Themen (man spricht von Memen) und deren Ausbreitung detektiert und anschließend durch Anwendung von Netzwerkmodellen modelliert.
Hintergrund dieser relativ jungen Anwendung ist die Modellierung von Mundpropaganda und Gerüchten. Vor allem Malcolm Gladwell (The Tipping Point. Little, Brown and Company, Boston, 2000) ist es zu verdanken, dass das Thema plötzlich so virulent ist. In seinem Buch Tipping Point wirbt er für die Idee, das Phänomen Mundpropaganda intensiver zu untersuchen und systemtheoretisch zu modellieren, um Marketing zu optimieren. Schon vor Gladwell war bekannt, dass die epidemiologischen Gleichungen zur Beschreibung der Dynamik von Infektionen bestens geeignet sind, um auf Mundpropaganda übertragen zu werden. Um eine empirische Evidenz zu haben, müssen die durch Mundpropaganda verbreiteten Inhalte irgendwie gemessen werden. Das geht dann einfach, wenn man sich nicht nur verbal, sondern über beständige Signifikanten wie Texte, Videos, Bilder etc. ausdrückt und diese womöglich im Internet verteilt. Dann lässt sich die Dynamik sehr gut anhand der Empirie validieren und Modelle der Verbreitung von Memen aufstellen, wie man die Inhalte nicht nur der Mundpropaganda, sondern Denkinhalte, Meinungen und dergleichen im Allgemeinen bezeichnet.
Meme sind laut Richard Dawkins die Grundeinheiten einer kulturellen Evolutionstheorie, wie die Gene die Einheiten der biologischen Evolution sind. Ihre Vermehrung verläuft also wie eine Virenausbreitung, weshalb Dawkins in Bezug auf Religion abfällig von "Viren des Geistes" spricht. Die Ausbreitung der Viren erfolgt in einem sozialen Netzwerk, auch hier wieder in voller Analogie zu den biologischen Viren. Personen, die in engem Kontakt stehen, geben die Viren weiter. Epidemiologische Theorien und Netzwerkdynamiken verhelfen also zu einer immer besseren Modellierbarkeit der Ideenausbreitung, vor allem im Internet, weil perfekt detektier und messbar.
Jenseits der Manipulation der "breiten Masse" spielen die selben algorithmischen Verfahren bei der vermeintlichen Objektivierung von Diagnosen in der Medizin und anderen Bereichen eine Rolle. Ich habe hierzu folgende Artikel publiziert:
- Hans H. Diebner: Kunstvergessenheit. Oder: Die systemwissenschaftliche Vernutzung von Kunst. In: Jürgen Schläder und Franziska Weber (Hrsg.): Gegenwelten. Zwischen Differenz und Reflexion - Momentaufnahmen vom Festival Dance. Henschel-Verlag, Leipzig, 2009, Seiten 84-121.
- Hans H. Diebner: Cultural Evolution and the Internet. Paper präsentiert auf der Konferenz Mutamorphosis - Challenging Arts and Sciences. Prague, 8th-10th of November 2007.
- Hans H. Diebner: Bilder sind komplexe Systeme und deren Interpretationen noch viel komplexer: Über die Verwandtschaft von Hermeneutik und Systemtheorie. In: Inge Hinterwaldner und Markus Buschhaus (Eds.): The Picture's Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. Fink-Verlag, München, 2006, pp. 282-299.
- Hans H. Diebner: Von guten Algorithmen und schlechten Menschen. In: Barbara Könches und Peter Weibel (Hrsg.): UnSICHTBARes - kunst_wissenschaft. Benteli-Verlag, Bern, 2005, pp. 384-405.
Schon Martin Heidegger sah in der Technizität des Menschen ein Prinzip seines Niedergangs, jedoch nicht ohne in seinem berühmten Hölderlin-Zitat zum Ausdruck zu bringen, dass die Gefahr gleichzeitig zu einem Prinzip des Rettenden wird. Bernard Stiegler meint zwar, dass Heidegger selbst mit seiner Philosophie dieser Fragestellung hat nie die Stirn bieten können. Er wirft nämlich Heidegger vor, zur Mystagogie der Sophisten zurück gekehrt zu sein. Ich wiederum frage mich, ob Stiegler nicht beginnt, in dieselbe Endlosschleife der Dialaktik der Aufklärung zu geraten, wie sie der Frankfurter Schule zum Verhängnis wurde. Letzlich aber liegen Heidegger, der bekanntlich selbst das Prinzip der Sorge in den Mittelpunkt seiner Philosphie stellte und die medienkritische Analyse von Stiegler sehr dicht beieinander.