Liquid Perceptron (2000)

von Hans H. Diebner und Sven Sahle


Hans H. Diebner und Sven Sahle: Liquid Perceptron.
Einladungskarte für die Ausstellung in der K&S-Galerie Berlin 2001.



Hans H. Diebner und Sven Sahle: Liquid Perceptron im Rahmen
der Ausstellung "Vision: Image and Perception", Budapest Autumn Festival- Mucsarnok/Kunsthalle Budapest - C3 18 October - 17 November 2002.


Hans H. Diebner und Sven Sahle: Liquid Perceptron im Rahmen
der Ausstellung "Data Collision", 11. - 30. April 2008 in der Stadtgalerie Nova Gorica, Slowenien.


Die Installation "Liquid Perceptron" ist eine Simulation eines neuronalen Netzwerkes, das durch die externe Realität anregbar ist. Vergleichbar dem Auge erkennt eine Kamera die Bewegung von Objekten im Raum und leitet das Videosignal an das neuronale Netzwerk weiter, welches aus etwa einer halben Million zu einem zweidimensionalen Feld arrangierten und miteinander gekoppelten, anregbaren Neuronen besteht. Die Aktivität der Neuronen ist farblich kodiert. Die hellen Bereiche sind besonders stark aktiv. Der open loop Zustand (d.h. entkoppelt von der Umgebung) des Modellgehirns zeigt wellenartige fluide Muster mit geringer Amplitude. Sobald das Netzwerk aber durch ein künstliches Auge, eine Kamera, an die Umgebung gekoppelt wurde, wird die externe Realität durch ein abstraktes Wellenmuster emergent, diesesmal mit ausgeprägter Amplitude. Man kann diese dynamischen Muster als "Eigendynamiken" des Netzwerkes auffassen.

Die durch die Bewegungen der BetrachterInnen ausgelösten Aktivitätsfronten breiten sich über das Netzwerk aus. Eine ähnliche Ausbildung eines zusammenhängenden Musters kann auch in der Gehirnaktivität beobachtet werden. Die zur "Wahrnehmung" korrespondierende Information ist, bedingt durch die Kopplung der neuronalen Elemente, im globalen Aktivitätsmuster und nicht im einzelnen Neuron repräsentiert.

Liquid Perceptron ist freilich ein vereinfachtes Modell eines neuronalen Netzwerkes. Die einzelnen Neuronen genügen jeweils einer gängigen Differentialgleichung zur Modellierung neuronaler Aktivität, allerdings die Topologie ist stark vereinfacht. Abgesehen davon, dass es im Vergleich zum menschlichen Gehirn fast verschwindend wenige Neuronen sind, die hier gekoppelt sind, entspricht auch die homogene und rein nachbarschaftliche Kopplung bei Weitem nicht der komplexen Verknüpfung realer Neuronen im Gehirn. Selbst die deutlich erweitere 3-dimensionale Variante Liquid Perceptron 3D ist im Vergleich zu einem realen menschlichen Gehirn immer noch extrem vereinfacht.

Eine wesentliche Idee der performativen Wissenschaft ist der Einbezug des Systems, das modelliert wird, in das Modell. Mit anderen Worten, die Wechselwirkung des Beobachters mit der Installation Liquid Perceptron gibt mindestens soviel Aufschluss über die Funktionsweise des Gehirns, wie die Simulation selbst. Selbstverständlich trägt der Kontext, in den die Arbeit eingebettet ist, das Seine zur Wirkung bei. Vor allem durch den zweimaligen Einbezug der Installation in die Inszenierung der Oper "Einstein on the Beach" ist die relationale Ästhetik voll zur Geltung gekommen. Liquid Perceptron war jeweils Teil eines stimmigen Gesamtkonzepts, das einen künstlerischen Diskurs zu aktuellen Wissenschaftsthemen umzusetzen vermochte. Im Hinblick auf Liquid Perceptron konnte ich vor allem die Beobachtung, dass die Rezipienten durch ihre Bewegung die Dynamik der Musterbildung mit der des musikalischen Rhythmus zu synchronisieren versuchten, mit meiner Vorstellung zur Theorie der Selbstorganisation in Einklang bringen.


Hans H. Diebner und Sven Sahle: Liquid Perceptron.
Video-Dokumentation mit Auszügen aus Einstein on the Beach, Parochialkirche Berlin 2005.

Anmerkungen zur Musterbildung im Gehirn und in biologischen Systemen

Das Gehirn ist ein Netzwerk aus etwa 10 Milliarden Neuronen. Es funktioniert einerseits als "Stimulator", anregbar durch äußere Reize über die Sinnesorgane und andererseits als "Simulator", es kann Szenarien simulieren und damit die Wirklichkeit in gewissen Grenzen antizipieren. Neuronen können durch äußere Stimuli zu Oszillationen angeregt werden. Über Axonen und Synapsen sind die Neuronen jeweils mit vielen anderen Neuronen verbunden und geben ihre Oszillationen an diese Nachbarn weiter. Durch die Kopplung entsteht ein Aktivitätsmuster, das sich über größere Areale des Gehirns erstreckt.

Das Gehirn bleibt aber auch aktiv, wenn keine weiteren äußeren Stimuli erfolgen. Es simuliert dann quasi, was beispielsweise zum Phänomen des Träumens führt. Allerdings kann man Stimulator und Simulator nicht strikt voneinander trennen. Die Funktionen greifen ineinander. Mit den bekannten Deprivationsexperimenten versuchte und versucht man, Personen gänzlich von äußeren Stimuli zu entkoppeln, indem man sie in völlig gegen äußere Signale isolierte Deprivationstanks bringt. Das Gehirn fängt dann schnell an zu halluzinieren und kann bei länger anhaltender Entkopplung von der Umgebung nachhaltig geschädigt werden. Das zeigt, dass man das Gehirn immer systemisch, d.h. nicht auf das Einzelobjekt Gehirn reduziert, beschreiben sollte.

Es wurde zum ersten Mal von Alan Turing beschrieben, dass kleine lokale Instabilitäten oder Störungen bzw. Anregungen in einem Teil eines mehrfach gekoppelten Systems zu Ausbreitung von kohärenten globalen Mustern über das ganze System führen. In seinem sehr bedeutsamen Aufsatz über die chemische Grundlage der Morphogenese aus dem Jahre 1954 bemerkte er das noch heute diskutierte morphogenetische Grundproblem, wo und wie in einer einzelnen anfänglichen Eizelle die Information darüber kodiert ist, wohin Kopf, Extremitäten usw. im sich ausbildenden Embryo zu wachsen haben.

Hans H. Diebner und Sven Sahle: Liquid Perceptron und Musterbildung in biologischen Systemen in der K&S-Galerie Berlin 2001.

Beim Debüt von Liquid-Perceptron in der K&S-Galerie Berlin, 2. Februar - 10. März 2001, haben wir die Musterbildung ästhetisch thematisiert. Weitere Beispiele aus derselben Kategorie dynamischer Systeme sind die Musterbildungen z.B. in Fellen von Tieren. Auch hier führen so genannte "Turing-Instabilitäten" zu globalen Mustern verteilt über das Gesamtsystem.




Die Zeitskala ist hier im Vergleich zu dem dynamischen Musterbildungsproblem des Gehirns um einge Größenordnungen langsamer. Die Muster stabilisieren sich permanent. Im Gehirn sind die Muster nur kurzzeitig stabil. Genau genommen befindet sich das Gehirn in einem dauernden transienten Zustand. Dennoch, von einem dynamischen Standpunkt aus betrachtet sind morphogenetische Systeme und das Gehirn eng verwandt. Oben ist eine Reihe von drei Bildern dargestellt, die in kurzer Abfolge als Momentaufnahmen eines morphogenetischen, musterbildenden Prozesses in einem zweidimensionalen Feld entstanden sind. Man sieht hier, dass die Muster (so genannte "Turing spots") allmählich emergent und schließlich stationär werden.


Szenen aus Einstein on the Beach,
Parochialkirche Berlin 2005.

Einstein on the Beach

In den Jahren 2001 und 2005 hatten wir mit Liquid Perceptron eine Ausstellungsbeteiligung bei der Inszenierung (Berthold Schneider) der Oper Einstein on the Beach (Philip Glass und Robert Wilson) . Die zweite Inszenierung fand in der Parochialkirche in Berlin vom 24. Juli bis 5. August 2005 statt., die im Folgenden kurz kommentiert ist.

Inszenierung: Berthold Schneider; Kurator: Ralf Hartmann; Musikalische Leitung: Ari Benjamin Meyers; Orchester: Redux Orchestra; Raum: Veronika Witte; Choreographie/Co-Regie Jo Siska.

Die folgenden Bilder entstanden während der Aufbauphase sowie der Generalprobe und zeigen Szenen aus der Oper und Exponate der integrierten Ausstellung - darunter Liquid Perceptron.

Im Zentrum der Aufführungskonzeption steht die Auseinandersetzung mit aktuellen Positionen zeitgenössischer Kunst, die in ihrem interdisziplinären Ansatz den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung reflektieren, und so wurde auch der szenische Raum der Aufführung erweitert durch die Präsentation verschiedener Projekte aus dem Bereich der Medienkunst.

Die Oper Einstein on the Beach von Robert Wilson und Philip Glass (UA 1976, Festival d'Avignon) zählt zu den einflussreichsten Werken der zeitgenössischen Opernliteratur. Nach einer Aufführungssperre seitens der Autoren wurde die Oper im August 2001 erstmals wieder in Berlin in einer Neuinszenierung in der Staatsbank unter musikalischer Leitung von Ari Benjamin Meyers sowie der szenischen Leitung von Berthold Schneider gezeigt.

Nach der vielbeachteten Berliner Erstaufführung in der ehemaligen Staatsbank 2001 ist das Werk anlässlich des Einsteinjahres 2005 mit einem neuen künstlerischen Konzept abermals unter der musikalischen Leitung von Ari Benjamin Meyers in der Berliner Parochialkirche zu erleben.


Ausstellungen:

  1. TESTING GROUND Im Rahmen des Symposiums "Revolving Stars, Shaky Grounds: Konstellationen unsicheren Wissens in Kunst, Wissenschaft und Technik", Festspielhaus Hellerau Dresden, Forum / Workshops / Ausstellung, 03.07 - 06.07.2014
  2. TRANSITION - knowledge through performance in art and science. Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst vom 25.10.--30.11.2012.
  3. INM@Nacht der Museen in Frankfurt am Main am Sa. 07. Mai 2011. Anlässlich der "Nacht der Museen" haben sich alle Nutzer der Schmickstraße 18 (Kulturbunker im Frankfurter Osthafen) zusammen getan und ein gemeinsames Programm gestaltet.
  4. Neue Medien machen Sinn | Kontext INM: Performative Wissenschaft und Virealität Eine Ausstellung im Rahmen des Forums Wissenschaft und Kunst des HMWK-Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Kuratiert von Michael Klein und Hans H. Diebner, Institut für Neue Medien, Frankfurt am Main. Im Auftrag von und in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaft und Kunst des HMWK-Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Dauer: 09. März - 16. April 2011. Ort: HMWK Wiesbaden Rheinstr. 23-25. Vernissage: 08. März 2011 19.30 Uhr.
  5. Data Collision. Eine Intermedia-Ausstellung von 11. - 30. April 2008 in der Stadtgalerie Nova Gorica, Slowenien.
  6. Ausstellungsbeteiligung bei der Inszenierung (Berthold Schneider) der Oper Einstein on the Beach (Philip Glass und Robert Wilson) in der Parochialkirche in Berlin vom 24. Juli bis 5. August 2005. Inszenierung: Berthold Schneider; Kurator: Ralf Hartmann; Musikalische Leitung: Ari Benjamin Meyers; Orchester: Redux Orchestra; Raum: Veronika Witte; Choreographie/Co-Regie Jo Siska.
  7. Vision: Image and Perception, Budapest Autumn Festival- Mucsarnok/Kunsthalle Budapest - C3 18 October - 17 November 2002.
  8. Cibervisión 02: Fluid Dynamics. International Festival of Art, Science and Technology Cibervisión 2002 (Madrid, March 2002).
  9. Ausstellungsbeteiligung innerhalb der von Berthold Schneider neuinszenierten Oper Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson in der Staatsbank Französische Strasse, Berlin, 22. bis 31. August 2001.
  10. K&S-Galerie Berlin, 2. Februar - 10. März 2001.